Mittwoch, 2. Februar 2011

Ich bin in Sehnsucht eingehült



Tränenhalsband

Die Tage lasten schwül und schwer, voll wildem,
bangem Weh. Es ist in mir so kalt und leer, daß
ich vor Angst vergeh'.
Die Vögel ziehn gen Mittag hin, sie sind schon
lange fort. Schon seh' ich keine Aster blühn,
und auch die letzten Falter fliehn, die Berge
sind mit Herbst umflort.
Ich bin in Sehnsucht eingehüllt, ich sehne mich
nach dir. Mein heißes Sehnsuchtslied erfüllt
die Welt und mich mit ihr.
Der Regen, der eintönig rauscht, begleitet
meinen Sang. Und wer dem Regenliede lauscht und
wer sich an dem Weh berauscht, der hört auch
meines Liedes Klang.
Nur du allein, du hörst es nicht - ach, weiß ich
denn, warum? Und wenn mein Lied einst gell,
zerbricht, du bleibst auch kalt und stumm.
Dir macht es nichts, wenn jeder Baum mitleidig
fleht: so hör! Du gehst vorbei und siehst mich
kaum, als wüßtest du nicht meinen Traum,
und 's fällt dir nicht mal schwer.
Und doch bist du so bleich bedrückt, wie einer
der versteht, der seine Seufzer schwer erstickt
und schwer beladen geht.
Und doch ist Weh in deinem Blick, um deine
Lippen Leid. Verloren hast du wohl das Glück,
es kommt wohl nimmermehr zurück, und du -
du bist »befreit«.
Nun ja, das Glück war dir zu schwer, du hast es
hastig-wild verstreut, und nun sind deine
Hände leer, es füllt sie nur noch Einsamkeit.
So stehst du da und wirfst den Kopf mit starrem
Trotz zurück, und sagst, was du ja selbst nicht
glaubst - »Ich pfeife auf das Glück!«
Und dann, wenn es schon längst vorbei, stehst du
noch da und starrst ihm nach, dann sehnst du
es so heiß herbei, es ist dir nicht mehr einerlei
- dann bist du plötzlich wach.
Zurück jedoch kommt es nie mehr - denn rufen
willst du nicht, und wäre die Leere so unendlich
schwer, daß dein Rücken darunter bricht.
So tragen wir beide dasselbe Leid, ein jeder für
sich allein. Mich krönt aus Tränen ein schweres
Geschmeid' und dich ein Sehnsuchtsedelstein.
Und der Wind singt uns beiden den ewigen Sang
von Sehnen und Verzicht, doch auch wenn es
dir zum Sterben bang - du rufst mich trotzdem nicht.

6. 11. 1941

Selma Meerbaum-Eisinger, ein jüdisches Mädchen, das träumte und Gedichte schrieb. Sie starb mit achtzehn Jahren im Arbeitslager Michailowska jenseits der Bug.

2 Kommentare:

  1. Liebe Grischu,
    schön, daß Du dieses Gedicht eingesetzt hast.
    Ich habe vor ein paar Tagen das Tagebuch der Anne Frank noch einmal gelesen und bin zu der Erkenntnis gekommen, dass - bedingt durch die Nähe des Todes - die jungen Menschen viel tiefer, ernster geschrieben haben.
    Liebe Grüsse
    Irmi

    AntwortenLöschen
  2. Liebe Grischu,
    danke für diesen wundervollen Text - sehr berührend in Verbindung mit dem zauberhaften Bild...

    Ich bin vor einigen Jahren auf die Vertonung des World Quintets gestoßen - seitdem begleiten mich Selmas Texte...

    HERZliche Grüße
    Martina

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