Samstag, 27. November 2010

Weihnachten mit Odysseus


Der Mann, der mich fragte, sprach nur gebrochen Deutsch. Er trug eine für die Jahreszeit viel zu leichte Jacke und hatte einen südländischen Akzent.
   "Entschuldigung", wandte er sich an mich, "können Sie sagen, wann kommt Zug?"
   Ich wollte gerade in mein Auto steigen und nach Hause fahren, hatte die Tür auch bereits geöffnet und saß in Gedanken längst hinterm Steuer und dann so eine Frage! Ich hätte den Mann auch barsch abweisen können, aber schließlich war es am Nachmittag von Heilig Abend und etwas Gutherzigkeit war wohl nicht fehl am Platz.
   "Wann der Zug kommt?" fragte ich zurück, "da müssen wir auf den Fahrplan schauen."
   "Ja, Fahrplan", wiederholte der Fremde, "jaja."
   Gemeinsam gingen wir auf den Bahnsteig, ich fragte ihn unterdessen, wohin er denn wolle, nach Freiberg, und musste ihm dann leider mitteilen, dass heute - 24. Dezember - ab 15 Uhr 34 kein Zug mehr dorthin fuhr.
   Als ich ihm das sagte, schien für ihn eine Welt zusammenzubrechen.
   "Meine Familie", stöhnte er, "meine Frau, kleine Fatima und kleine Mehmed. Und heute Weihnachten. Und heute kein Zug mehr."
   Freiberg, überlegte ich, nicht grade der nächste Weg, immerhin knapp zehn Kilometer einfach, aber an so einem Tag konnte ich auch einen Wildfremden nicht hilflos auf dem Bahnsteig zurücklassen.
   "Kommen Sie", sagte ich, "ich fahre Sie mit dem Auto hin!"
   "Sie mich bringen nach Freiberg?"
   Die Augen des Mannes erhellten sich und er strahlte übers ganze Gesicht.
   "Ich bezahlen!" fuhr er fort und kramte nach seinem Geldbeutel, aber ich winkte ab.
   Ich ließ ihn einsteigen, ließ den Motor an und fuhr zielstrebig auf die Bundesstraße.
   "Sie guter Mann!" sagte der Fremde immer wieder und sah mich dankbar von der Seite an
   Freiberg war bald erreicht. Ich fragte den Mann nach seiner Adresse, aber er druckste herum.
   "Muss zuerst noch zu meine Bruder, wenn möglich", radebrechte er, "Geschenke holen. Kinder nix wissen. Überraschung."
   Also fuhr ich mit meinem Begleiter zuerst zu seinem Bruder, der ganz zufällig genau am anderen Ende von Freiberg wohnte.
   Worauf hatte ich mich da bloß eingelassen?

   (Fortsetzung folgt...)


   Aus: Stefan Grimm, Die Stadt in der Schachtel, Cottbus 2004, erschienen im Regia-Verlag.

Ich wünsche Euch allen eine schöne Adventszeit.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

LinkWithin

Related Posts with Thumbnails